Bisher hatten wir die ärmsten Gegenden nur von unten gesehen, heute fahren wir in eine solche Schlucht, die sich zwischen die Berge hinein nach oben schiebt. Die langen Fahrt nervt – die größten Straßen sind voller Löcher, immer wieder strapazieren Bremswellen unser Kreuz und von links und rechts zwängen sich sooft Busse und Mopeds, dass ich zwischen durch die Augen schließe. Eine Stunde später sehne ich sie mir herbei: Wir kriechen mit unserem Kleinbuss einen Schluchtweg hoch, zwischen notdürftigen Hütten und leicht befestigten Kleinhäusern.
Zu Fuß kommen wir an einen gepflasterten Platz. Ich wundere mich, dass dem Platz eine eigene Säule mit Gedenkstein der Erbauung gewidmet ist. Der Mitarbeiter von DESCO, eine Nicht-Regierungs-Organisation, mit der Misereor in Lima arbeitet, erklärt uns, wie wichtig der Platz ist: der einzige, befestigte Platz, Versammlungsort für die "Häuser" ringsum, Spielplatz für die Kinder, usw. Hier werden die "zentralen Entscheidungen getroffen" und "die Projekte geplant". Die Begriffe wundern mich – noch.
Während der junge Mann von DESCO noch erklärt, geht der Bischof auf eine Frau zu, die in der Nähe steht, und fragt sie über den Platz, über die Bauphase und darüber, was er für sie bedeutet.
Weitere Bauprojekte der Nachbarschaften sind Treppen. Jede ist mit einem Gedenkstein versehen, in der Nacht sehr hilfreich. Bei der Heimfahrt entdecken wir später unzählige dieser farbigen Treppenwege an den Hangsiedlungen.
DESCO hilft mit Misereor-Unterstützung noch bei vielem andern: Irgendwo schnappe ich den Begriff "Mikro-Unternehmen" auf: Ein paar Männer, die keine Arbeit in der nahen Zementfabrik im Tal finden, lernen, Schuhe zu machen, gute Schuhe, die in den steilen Bergen länger halten als chinesische Ware und die sie in den Hangsiedlungen verkaufen. Oder Kinder im Grundschulalter backen und verkaufen die Plätzchen an die Nachbarn oder auf den "fereas", Feste mit Musik, Tänzen, Spielen und eben den kulinarischen Köstlichkeiten.
Die DESCO-Leute kommen jetzt wie auch Frau Ahr von Misereor nicht mehr zum Reden. Die Bewohner dort stellen alles vor. Weiter unten sind wir in einem Kindergarten – viele Mütter sind die einzigen Geldverdiener der Restfamilie; die Schule hat heute nur die Nachmittagskochklasse mit den erwähnten Backkurs, weil die Lehrer/-innen auf Fortbildung sind.
Alles ist sehr, sehr einfach gebaut. Immer wieder ein Platz wie am Anfang, in manchen Hütten werden Lebensmittel zum Verkauf angeboten. Große blaue Plastik-Tonnen bergen das Wasser. Den Abfall holen die kleinen Dreirad-Lkw´s der Stadt.
Kurz erwähnt der Bischof uns gegenüber andere Misereor-Projekte, die er mit dem Leiter von Misereor in Deutschland, Professor Josef Saier angeschaut hat. Nicht ohne Grund ist der Bischof auch in der Misereor-Kommission der Bischofskonferenz.
Es ist viel geschehen, seit sich die Menschen hier angesiedelt haben. Misereor hilft nur. Getan, geplant, gebaut haben es die Leute selbst: Plätze, Treppen, Schulen, Mikro-Unternehmen: eine Mikro-Gemeinschaft.
Es ist auch mit mir viel geschehen. Ich muss das Wort "Slum" aus meinem Wortschaft streichen. Vielleicht habe ich noch keinen gesehen. Es klingt wie "Schlamm", wie der erste dreckige, anonyme Eindruck aus der distanzierten Vogelperspektive. Wir sind jedoch vielen lieben und mutigen Menschen begegnet, Gesichtern, Herzen. Gewalt ist hier kein Thema, sagt der DESCO-Mann. Irgendwie wundert es mit jetzt gar nicht mehr.
Bei der Heimfahrt erzählt uns Bischof Gerhard Ludwig, dass die Stadt bis vor wenigen Jahren solche Siedlungen regelmäßig mit Bolldozern platt machte, weil illegal. "Die wollten nicht die Armut bekämpfen, sondern die Armen."
Michael Fuchs